Die Hansestadt Stendal ist nicht fahrradfreundlich. Das bestätigte der jüngste ADFC-Fahrradklima-Test mit der Note 4. Schon 2016 hatte ich die oft unbefriedigende Situation in einer Dokumentation erfasst und Veränderungswege aufgezeigt, unterstützt durch Traudel Kallender und Reinhard Wirth. Auf dieser Grundlage war ich mit Stadträten ins Gespräch gekommen und hatte auch zwei Treffen mit dem Oberbürgermeister.
Ein Radwegekonzept von 2001 soll evaluiert und erneuert werden; der Stadtrat hatte auf Initiative der Fraktion Die Linke–Bündnis 90/Die Grünen dazu einen Beschluss gefasst und die Stadtverwaltung beauftragt, bis 31. Mai 2017 über die Umsetzung dieses Radwegekonzepts zu informieren und Eckpunkte für eine Fortschreibung vorzulegen. Doch aus dem Rathaus verlautete, aus Personalmangel müsse diese Aufgabe auf 2018 verschoben werden.
Mit Frau Katrin Kunert (Die Linke), Mitglied des Bundestages und Stadträtin, hatte ich langfristig eine Befahrung der Stendaler Kernstadt vorbereitet, um die Einschätzungen und Erfahrungen des ADFC einbringen zu können. Zu diesen radverkehrspolitischen Erkundungen trafen wir uns am 8. Juni, und auch der Oberbürgermeister, Herr Klaus Schmotz (CDU), hatte sich dafür Zeit genommen. Ein Zeichen der Hoffnung?!
Einige Schwerpunkte der dreistündigen Erkundungen will ich hier darlegen:
Erstens: Die Radverkehrsanlagen entsprechen größtenteils nicht den Anforderungen von StVO, VwV-StVO und ERA 2010. Die überwiegende Mehrzahl der Radwegbenutzungspflichten ist deshalb aufgehoben worden. Die Abordnungen wurden jedoch nicht öffentlich kommuniziert, und es gibt Verunsicherungen. Am Zustand der Anlagen änderte sich nichts. Die Radfahrenden fahren – wenn vorhandenen – auf den schmalen Radwegen oder vor allem widerrechtlich auf den Gehwegen, oft auch linksseitig. Das Fahrbahnfahren im Mischverkehr ist kaum zu beobachten. Schutzstreifen oder Radfahrstreifen fehlen. Auch viele andere inzwischen bundesweit bewährte Elemente zeitgemäßer Radverkehrsplanung sind (noch) nicht vorhanden.
Anstatt Bordsteinradwege vor Knoten rechtzeitig auf Fahrbahnniveau in das Blickfeld des Kraftverkehrs zu führen und mit allgemeiner oder Radverkehrsampel gleichberechtigt zu behandeln, wird hier der Radverkehr von der Fahrbahn auf Bordsteinradwege geholt und außerdem durch kombinierte Fußgänger/Radfahrer-Signalisierungen benachteiligt.
Zweitens: Für den Radverkehr ist keine stadtplanerische Gesamtstrategie erkennbar. Immer wieder ändern sich die Bedingungen, ein flüssiges und sicheres Fahren wird erschwert. So muss man im Ostwall bis zur Rathenower Straße auf einem (zu schmalen) benutzungspflichtigen Radweg fahren (Zeichen 241). Nach der Kreuzung gibt es jedoch nur einen Gehweg, und die Einordnung in den fließenden Fahrverkehr wird nicht unterstützt. Ohne abzusteigen ist die korrekte Weiterfahrt kaum möglich.
Für den Radverkehr zwischen der Altstadt und den umliegenden Wohngebieten werden keine durchgängigen Trassen ausgewiesen. Dabei gibt es gute Voraussetzungen. So könnten Fahrradstraßen zwischen Bahnhof und Markt (über die Hallstraße) oder zwischen Hochschulcampus und Nordwall (über die Elisabethstraße) eingerichtet werden. Auch entlang des Flüsschens Uchte und auf der Grabenstraße sowie entlang des Haferbreiter Weges wäre eine komfortable Verbindung ins Zentrum denkbar. Eine charmante Lösung bestünde obendrein darin, diese radialen Fahrrad-Trassen durch einen Radring um die Altstadt, der entlang der Wallanlagen verliefe, zu verbinden.
Drittens: Die Altstadt (innerhalb der Wallanlagen) weist bereits mehrere Straßen mit Höchstgeschwindigkeit 20 km/h aus. Radwege gibt es nicht und sind auch nicht nötig: aller Fahrverkehr soll und kann auf der Fahrbahn stattfinden, gemeinsam und auf Sicht (Trotzdem gibt es leider auch hier verbotenes Gehwegfahren). Die in der Summe guten Erfahrungen sollten ausgebaut werden: Der Straßenzug Schadewachten/Sperlingsberg/Rathenower Straße lädt förmlich zur Umgestaltung in einen shared-space-Bereich ein. Eine große Chance, da dort laut Auskunft von Klaus Schmotz bald eine komplette Sanierung ansteht.
Großes Konfliktpotential hat der Verkehrsknoten am Schützenplatz (siehe Abbildung oben),der dringend einer kompletten Umgestaltung mit modernen Lösungen auch für die Führung des Radverkehrs bedarf. Ein elliptischer Kreisverkehr könnte eine Möglichkeit sein.
Viertens: Bestandteil der Befahrung waren zwei Kreisverkehre, auf denen das Radfahren auf der Fahrbahn erlaubt ist, jedoch nicht/kaum geübt wird. Am Uenglinger Tor stehen Radwege zur Verfügung, die jedoch verkehrsrechtlich außerhalb des Kreisels geführt werden und so einer Wartepflicht unterliegen. Die Radfahrenden werden damit gegenüber dem übrigen Fahrverkehr benachteiligt. Am Kreisverkehr Erich-Weinert-/Röxer Straße gibt es nur umlaufende Gehwege außerhalb des Kreisels mit Wartepflicht an jeder Relation, und sie werden (in beiden Richtungen!) durch den Radverkehr benutzt.
Fünftens: Irgendwann scheint in Stendal die Zeit stehengeblieben zu sein. Es gibt großen Nachholbedarf, auch bei weiteren Faktoren, die auf die Attraktivität des Fahrradfahrens Einfluss haben. Dazu gehören häufige Querungsstellen und Bordsteinabsenkungen, aufgeweitete Radaufstellstreifen und Radspuren für das direkte Linksabbiegen, sichere Fahrradabstellanlagen (beispielhafte gibt es bereits am Bahnhof), fahrradspezifische Wegweisungen, an Baustellen Einrichtung von sicheren Umfahrungen, Freihalten der Radwege von darauf parkenden Kfz oder von Wertstofftonnen an den Abholtagen. Nicht zuletzt sollte die Absenkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in noch mehr Straßenzügen erfolgen. Von neueren Gestaltungsansätzen wie z.B. geschützten Radspuren oder Radschnellwegen zwischen der Kernstadt und den umliegenden dörflichen Ortsteilen wage ich noch gar nicht zu reden.
Die Stadträte und der Oberbürgermeister waren wohl überrascht, wie herausfordernd oder gar unmöglich regelkonformes, komfortables und sicheres Radfahren sein kann. Sie erlebten ein eher „autogerechtes“ Stadtbild. Einige angesprochene Radfahrende bekannten, aus Furcht vor dem Autoverkehr immer auf dem Gehweg zu fahren. Im Hinterkopf hatte jeder Politiker zudem die ernüchternden Ergebnisse des ADFC-Fahrradklima-Tests und die Ahnung: es ist höchste Zeit für eine moderne Radverkehrskonzeption. Aber nicht eine nur auf dem Papier…
Ja, das Rathaus sollte auch ein Radhaus sein!
©Text und Fotos (außer Foto Nr. 1 und Nr. 4) Werner Hartig
Bis heute hat sich daran noch nicht so viel geändert (leider).
Besonders „fühlenswert“ sind die „Radwege“ der Arneburger Straße, welche mühelos gegen Paris-Roubaix bestehen können. 😉
Auch die Radwegeführung am Tangermünder Tor ist schwierig, gelinde gesagt.
Auch einige Wege im Innenstadtbereich könnten eine gewisse Glättung der Kopfstein-Piste ganz gut vertragen.